Kulturrevolution in Deutschland? 

Forschung aktuell, 176

17. November 2003

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Kulturrevolution in Deutschland?

Die Hochkultur hat ihr Monopol verloren

Tenöre singen in Fußballstadien, Popkonzerte finden in Kirchen statt. Die Hochkultur traditioneller Prägung hat ihr Monopol bzw. ihren Elitecharakter verloren. „Kultur hat viele Gesichter und schließt auch populäre Unterhaltungsangebote wie z.B. Kino, Musicals und Rock-Pop-Konzerte mit ein“, sagen 69 Prozent der Deutschen. Dies geht aus einer repräsentativen Untersuchung des B•A•T Freizeit-Forschungsinstituts hervor, die die Hamburger Kultursenatorin Dr. Dana Horáková gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Leiter des Instituts Prof. Dr. Horst W. Opaschowski jetzt in Hamburg vorstellte. 1.000 Personen ab 14 Jahren wurden nach ihrem Kulturverständnis gefragt.
„Zur Kultur gehören heute Vielfalt und Vielseitigkeit, Klassisches und Modernes, Ernstes und Unterhaltsames. Kultur darf unterhaltsam und erlebnisreich, muss also nicht nur ernst und anstrengend sein“, so Prof. Dr. Horst W. Opaschowski. „Zum Bildungsanspruch gesellt sich der Unterhaltungswert.“ Auch Liedersänger, Straßenkünstler und Kabarettisten, Popsänger und Kinostars können Anregungen zum Nachdenken geben. Lediglich die ältere Generation der über 65-Jährigen pocht darauf, nur klassische Angebote wie z.B. Oper, Konzert, Theater, Ballett oder Museumsausstellungen als Kultur anzuerkennen (48%): „Kultur kann doch kein bloßes Unterhaltungsmedium und Massenvergnügen sein.“ Die Gesamtbevölkerung hält von diesem engen Kulturverständnis relativ wenig (29%).
Das Volk der Dichter und Denker verabschiedet sich mehrheitlich von der überkommenen kulturellen Ordnung, nach der die Hochkultur wertvoller als die Massenkultur ist. Elite und Masse sind in der Kulturlandschaft von heute keine Gegensätze mehr, weil beide inzwischen Markt- und Massencharakter bekommen haben. Opaschowski: „Die Hochkultur wird vom Sockel geholt, aber nicht gestürzt; sie lebt weiter als Kultur für alle.“

E + U = I.
Eine neue Integrationskultur ersetzt den Gegensatz von E- und U-Kultur

Das Kulturverständnis der Deutschen hat sich grundlegend verändert, seitdem auch hochkulturelle Ereignisse geradezu massenhaft angeboten werden und zunehmend Eventcharakter bekommen, während gleichzeitig Pop- und Open-Air-Konzerte künstlerisch wie auf der Bühne in Szene gesetzt werden. Wo hört der künstlerische Anspruch auf und wo fängt der bloße Unterhaltungscharakter an? „Das in Deutschland gebräuchliche Begriffspaar E- und U-Kultur ist überholt. Die neue Formel lautet eher: E + U = I. E-Kultur- und U-Kultur wachsen zu einer neuen Integrationskultur zusammen, in der auch Reflexion und Emotion, Bildung und Unterhaltung zusammengehören“, so Professor Opaschowski.
Das Votum der Bevölkerung ist eindeutig: Kultur heute schließt auch populäre Unterhaltungsangebote wie z.B. Kinos, Musicals oder Rock-Pop-Konzerte mit ein, die Zerstreuung und Erlebnisse bieten und einfach Freude machen. Über drei Viertel der jüngeren Generation im Alter bis zu 34 Jahren (78%) wollen Kultur in diesem Sinne als Breitenkultur mit integrativer Wirkung verstanden wissen. Das neue Kulturverständnis gleicht einer gelungenen Symbiose von Ernst und Unterhaltung, Kunst und Kommerz. Kultur bekommt in diesem Vermischungsprozess eine neue Qualität.

Berlin. München. Hamburg. Dresden.
Die vier führenden Kulturmetropolen in Deutschland

Kultur als Standortfaktor mit Blick auf wirtschaftliche Begleiteffekte und urbane Attraktivität ist zur Hauptantriebskraft für die Kulturpolitik im 21. Jahrhundert geworden. Deshalb gehen viele Städte dazu über, eine eigene „Kultursaison“ zu kreieren, eine Art fünfte Jahreszeit, die allen Städtetouristen und Bewohnern Kultur rund um die Uhr bietet: Festspiele und Open-Air-Konzerte, Kunstausstellungen und Kreativwochen. Im Wettbewerb um die größte kulturelle Attraktivität haben vier Städte in Deutschland die Nase vorn: Berlin (71%), München (46%), Hamburg (41%) und Dresden (40%). Sie zählen nach Meinung der Bevölkerung zu den „führenden Kulturmetropolen in Deutschland.“
Erst mit großem Abstand im Hinblick auf ihre kulturelle Ausstrahlung folgen Leipzig (20%), Köln (18%), Weimar (17%), Stuttgart (15%), Frankfurt (15%) und Hannover (6%). Dies geht aus der neuen Repräsentativbefragung des BAT Freizeit-Forschungsinstituts hervor.
„Neben dem Lohnwert und dem Wohnwert entwickelt sich der Kulturwert einer Stadt zum wichtigsten Standortfaktor“, so Professor Opaschowski. „Insbesondere Manager und Führungskräfte machen ihre Entscheidung für eine berufliche Mobilität von der Qualität des örtlichen Kulturangebots abhängig. Eine vielseitige Kulturlandschaft muss in erreichbarer Nähe sein.“ Hinzu kommt die wachsende Bedeutung des Städtetourismus. Kurz- und Städtetrips zählen zu den Reiseformen mit den größten Zukunftschancen: Städtetouristen wollen in wenigen Tagen möglichst viel erleben. Für die Kulturpolitik bekommt die Steigerung der touristischen Attraktivität höchste Priorität. Der Eindruck entsteht: In Kulturmetropolen „muss“ man einfach gewesen sein.

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

Tel. 040/4151-2264
Fax 040/4151-2091
guels@stiftungfuerzukunftsfragen.de

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