Arbeiten wie die Eltern – fest angestellt und mit geregeltem Feierabend 

Forschung aktuell, 172b

31. März 2003

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Arbeiten wie die Eltern – fest angestellt und mit geregeltem Feierabend

"Arbeiten wie die Eltern" – fest angestellt und mit geregeltem Feierabend.
Die Jobnomaden sind eine Legende

Die seit Jahren von Wirtschaft und Politik propagierte "Schöne Neue Arbeitswelt" scheint ein Mythos wie die Verheißungen der "New Economy" zu sein. Fast drei Viertel (71%) aller Berufstätigen wollen auch im 21. Jahrhundert "arbeiten wie ihre Eltern" – fest angestellt und mit geregeltem Feierabend. Dies geht aus einer Repräsentativuntersuchung des BAT Freizeit-Forschungsinstituts hervor, deren Ergebnisse Institutsleiter Prof. Dr. Horst W. Opaschowski anlässlich des 11. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) in Wiesbaden vorstellte. In seinem Vortrag stellte Opaschowski eine Reihe vieldiskutierter Mythen infrage. Seine wesentlichen Thesen im Auszug:
Die Realität der Arbeitswelt von heute gleicht eher einer Viel-Gesichter-Gesellschaft: Mal Ellenbogen- und mal Verantwortungsgesellschaft, mal Wegwerf- und mal Leistungsgesellschaft. Mitunter hat man gar den Eindruck, dass im Berufsleben Teamgeist gepredigt, aber Durchsetzungsvermögen erwartet, Kollegialität gewünscht, aber Rücksichtslosigkeit geduldet wird. Da werden flache Hierarchien propagiert und Work-Life-Balance-Konzepte beschworen, die sich im realen Business-Alltag als Legenden erweisen:

Mythos 1: "Jobnomaden"

Ein Phantom geht um in der Arbeitswelt – der Jobnomade, ein neuer Arbeitnehmertyp, der nicht ausreichend Rentenbeiträge zahlt und über keinen hinreichenden Schutz gegen Lebensrisiken wie Krankheit, Berufsunfähigkeit und Alter verfügt. Der Jobnomade denkt an seine soziale Absicherung zuletzt. Er soll ein hochmotivierter Experte mit hochflexiblem Arbeitseinsatz und einem hohen Maß an Selbstbestimmung sein. Auf der Jagd nach Erfolg weist seine Berufsbiographie unzählige Brüche auf: Gestern Versicherungskaufmann, heute Anlageberater, morgen Börsenmakler. Der Jobnomade hat kein dauerhaftes Zuhause mehr. Er muss ständig umdenken und umziehen. Von Hamburg nach Dresden, von Dresden nach München und von München nach Berlin. Immer den Jobs hinterher. Zum Lebensabschnittspartner gesellt sich der Lebensabschnittsjob. So könnte es sein, wenn der Jobnomade kein Mythos, sondern Wirklichkeit wäre.
Die Wirklichkeit der modernen Arbeitswelt vermittelt ein ganz anderes Bild. Flexibilität rund um die Uhr – heute hier und morgen da – gehört nicht gerade zur Arbeits- und Lebensplanung von Arbeitnehmern. Jobnomaden zwischen Festanstellung, Arbeitslosigkeit und Scheinselbstständigkeit, die zu jeder Zeit und von jedem Ort aus ein "mobiles Office" mit Handy, Laptop und geteiltem Schreibtisch ("Shared Desk") selbst bestimmen können, wann, wo und wie sie arbeiten – diese Jobnomaden gehören weitgehend in das Reich moderner Mythen – wie das "papierlose Büro" auch. Zu groß ist der Wunsch der Arbeitnehmer nach Sicherheit und Beständigkeit ausgeprägt.
Was Arbeitnehmer wirklich wollen, sind geregelte Verhältnisse, also Festanstellungen und keine Zeit- oder freien Mitarbeiterverträge. Fast drei Viertel (71%) aller Berufstätigen geben unumwunden zu: Auch im 21. Jahrhundert wollen sie "arbeiten wie ihre Eltern – fest angestellt und mit geregeltem Feierabend." Natürlich ist dies auch eine Generationenfrage. Mit zunehmendem Alter lässt die Lust an ungeregelten Arbeitszeiten und -verträgen verständlicherweise nach. Nach geregeltem Feierabend rufen am lautesten die 40- bis 49-Jährigen (75%). Aber auch die jungen Leute im Alter von 18 bis 34 Jahren wollen lieber konventionell wie die Eltern arbeiten (63%) und können sich auch im 21. Jahrhundert für Flexibilität und Mobilität im Berufsleben (33%) deutlich weniger begeistern.
Jobnomaden, die flexibel, mobil und immer auf der Wanderschaft von einem Arbeitgeber zum anderen sind und den klassischen Arbeitnehmer ablösen sollen, stoßen in der Arbeitsrealität auf ihre psychologischen Grenzen. Die meisten Arbeitnehmer wollen konventionell und traditionell mit festen Regeln und Zeitvorgaben arbeiten. Das Modell des Wanderarbeiters an superflexiblen Rollcontainern findet kaum Anhänger, weil auch Jobnomaden am Ende sesshaft werden wollen.

Mythos 2: Zeitpioniere

Zeitpioniere gelten als Leitbild einer neuen Leistungsgesellschaft, weil für sie Zeitwohlstand genauso wichtig wie materieller Wohlstand ist. Ganz bewusst arbeiten sie weniger, um mehr Zeit für sich und die Familie zu haben. Ihre Arbeit verrichten sie motiviert und leistungsbereit wie Vollzeitbeschäftigte auch. Doch zwei Drittel der Berufstätigen (60%) müssen im Arbeitsalltag die Erfahrung machen: "Durch Teilzeitarbeit und Teilzeitjobs in Betrieben werden kaum neue Stellen geschaffen, weil die Mehrarbeit auf die übrigen Kollegen verteilt werden" (berufstätige Frauen: 60% – berufstätige Männer: 62%).
An den Mythos "Mehr und neue Stellen" durch Teilzeitarbeit glaubt eigentlich nur noch eine knappe Mehrheit der jungen Generation im Alter bis zu 24 Jahren (51%). Alle anderen betrachten Teilzeitjobs nüchtern als eine weitere Variante von Rationalisierung und Produktivitätssteigerung: Mehr Teilzeitarbeit lastet Menschen und Maschinen besser aus, ermöglicht flexibleres Reagieren auf saisonale Marktschwankungen, verringert die Ausfälle durch Krankheiten, Betriebsunfälle und Fehlzeiten für Besorgungen. Hauptgewinner sind in jedem Fall die Betriebe. Die Beschäftigten hingegen haben eine doppelte Last zu tragen: Vollzeitbeschäftigte müssen noch mehr leisten und Teilzeitbeschäftigte müssen mit der Einschätzung leben, minderbeschäftigt oder gar minderwertig zu sein, weil sie weniger leisten.
Entsprechend kritisch stehen die Berufstätigen von heute neuen Arbeitszeitmodellen gegenüber:
An Job-Sharing, der Teilung des Arbeitsplatzes mit einem Kollegen, sind lediglich sieben Prozent der Berufstätigen interessiert.
Und von Zeitarbeit bzw. Beschäftigung in einer Zeitarbeitsfirma wollen die Berufstätigen fast gar nichts wissen. Zeitarbeit ist gerade einmal für zwei Prozent der Beschäftigten vorstellbar. Selbst bei Arbeitslosen würden sich nur fünf Prozent der Befragten für eine Zeitarbeit entscheiden. Die Hoffnungen der Politik, durch Personal-Service-Agenturen (PSA) Zeitarbeitsstellen als Beschäftigungsreserven geradezu "flächendeckend" zu erschließen, werden sich so schnell nicht erfüllen.

Mythos 3: Flache Hierarchien

Aus der Sicht der Arbeitnehmer hat sich fast nichts verändert: "Im Berufsleben heute gibt es wie früher auch Hierarchien von ‚Vorgesetzten‘ und ‚Untergebenen’" sagen 80 Prozent der befragten Berufstätigen (Frauen: 82% – Männer: 78%). Lediglich die Berufsgruppe der Selbständigen, die für sich selbst verantwortlich ist, hat eine etwas positivere Meinung (75%). Ansonsten hält die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten sogenannte "flache Hierarchien" für eine Legende bzw. für ein inflationär gebrauchtes Modewort. Wie vor fünfzig oder hundert Jahren auch dominiert in den Betrieben die Hierarchie von Vorgesetzten und Untergegebenen, die nicht nur eindeutig festlegt, wer wem unterstellt ist, sondern auch klare Anweisungen gibt, was wie zu tun ist. Offensichtlich erwarten die meisten Arbeitnehmer auch im 21. Jahrhundert klare Aufgabenverteilungen und verbindliche Anforderungsprofile: Aufgaben durch Vorgaben.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Hierarchie und Teamarbeit für die Arbeitnehmerschaft keine Gegensätze sind. Arbeitnehmer wollen einen klar ‚von oben‘ definierten Handlungsrahmen, der ihnen aber genügend Spielraum und Entscheidungsfreiheit zu Einzel- und/oder für Teamleistungen lässt. Nur so ist es erklärbar, dass Arbeitnehmer den Gruppenerfolg immer noch höher einschätzen als die Einzelleistung. Danach befragt, welche der folgenden Beschreibungen "am ehesten" für die gegenwärtige Situation im Berufsleben zu treffen, fallen die Antworten relativ moderat und ausgewogen aus:
"Im Berufsleben heute kommt es vor allem auf Gruppenarbeit und Teamgeist an" (52%).
"Im Berufsleben heute zählt nach wie vor die Einzelleistung mehr als der Gruppenerfolg" (44%).
Im Berufsleben ist offensichtlich beides gefordert: Selbstständigkeit und Teamfähigkeit. Je nach Arbeitsauftrag ist mal mehr die eine und mal mehr die andere Fähigkeit gefordert – und im Idealfall beides gleichzeitig.
Der moderne Mitarbeiter ist ein Unternehmer am Arbeitsplatz, der allein und/oder kooperativ mit anderen klar definierte Aufgaben erledigt oder delegiert. Effektivität und Produktivität ergeben sich aus den Schnittstellen beider Kompetenzbereiche. Teamarbeit ist notwendig, aber kein Allheilmittel. Am Ende zählt die Einzelleistung im Team: Dies ist eine neue Doppelkompetenz, die Einzelkämpfertum genauso verhindert wie bloßes Untertauchen im Team. Die Zeiten, in denen der Teamgedanke kolportiert wurde ("Team ist die Abkürzung für: Toll, ein anderer macht’s") sind endgültig vorbei. Die Hierarchie ist kein Auslaufmodell mehr und der Teamgedanke lebt trotzdem weiter.

Mythos 4: Work-Life-Balance

Der rapide Anstieg von Stressbelastung und psychosomatischen Beschwerden hat in den letzten Jahren die amerikanische Work-Life-Balance-Bewegung nach Deutschland schwappen lassen. Mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie soll endlich Ernst gemacht und die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit sollen fließender werden. Im Mittelpunkt soll wieder der "ganze Mensch" stehen und nicht mehr die Arbeit ohne Anfang und Ende. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Arbeitswelt 2003 kann (oder will) den Anspruch einer Balance von Arbeit und Leben nicht einlösen. Der Gegensatz von Berufs- und Privatleben bzw. die weitgehende Unvereinbarkeit von Beruf und Familie bleibt weitgehend erhalten. Die Arbeitnehmerschaft findet hierfür eine realistische Erklärung: "Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird von den Unternehmen nicht besonders gefördert, weil der Eindruck entsteht, dass nur mit halber Kraft gearbeitet wird" sagen fast zwei Drittel (62%) der Berufstätigen. Der Eindruck entsteht: Die Idealvorstellung aus unternehmerischer Sicht sieht eigentlich so aus: Halber Lohn + halbe Arbeitszeit = volle Leistung. Individuelle "Arbeit-à-la-carte" hat noch immer unter dem öffentlichen Leitbild der Vollbeschäftigung zu leiden: Wer das Familienleben so wichtig wie das Berufsleben nimmt, sieht sich Verdächtigungen von mangelnder Arbeitsmotivation über Arbeitsunlust bis zu Faulheit ausgesetzt.
Die Kehrseite eines harmonischen Ausgleichs zwischen Job und Privatleben bedeutet nicht selten, die berufliche Karriere aufs Spiel zu setzen. Denn wer in konjunkturell schwierigen Zeiten familiäre Auszeiten nimmt, erweckt den Eindruck, nicht – wie erwartet – mit vollem Einsatz zu arbeiten. Sabbaticals, Teilzeitarbeiten oder Halbtagsbeschäftigungen, die mit der Forderung "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" Ernst machen, werden schlechter bezahlt, weniger gefördert und bei Beförderungen schnell vergessen, während Full-Time-Jobber problemlos vorbeiziehen.
Die moderne Arbeitswelt lebt von unrealistischen Mythen, die Situationen, Ereignisse oder Ideen regelrecht verklären. Von diesen modernen Mythen geht eine große Suggestionskraft und Faszination aus. Damit können Wahrheiten und Realitäten wie z.B. ungelöste soziale Konflikte vorübergehend aus dem Blick geraten. Eine Entmythologisierung kommt hingegen einer Entillusionisierung bzw. großen Ernüchterung gleich. Wird doch dadurch der Glaube an den unbegrenzten Fortschritt in Wirtschafts- und Arbeitswelt nachhaltig erschüttert.
Andererseits: Die neuen Arbeitsmythen geben Rückhalt bei der Suche nach Sinn in einer von ökonomischen und technologischen Zwängen beherrschten Welt: Auf die Krise der Arbeit antworten sie mit der Faszination neuer Arbeitsqualitäten wie z.B. New Work, New Economy, Neue Selbstständigkeit, Neues Unternehmertum, Neue Dienstleistungsmentalität, Neue Arbeitsplätze usw. Auch in anderen Bereichen des Lebens entwickeln sich solche Mythen (z.B. New Age, Neue Religionen). Offensichtlich gibt es ein urmenschliches Bedürfnis nach solchen Mythen.

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

Tel. 040/4151-2264
Fax 040/4151-2091
guels@stiftungfuerzukunftsfragen.de

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