Globalisierung: Zwischen Aufbruchstimmung und Angstgefühlen 

Forschung aktuell, 201

20. November 2007

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Globalisierung: Zwischen Aufbruchstimmung und Angstgefühlen

Die Ungarn und die Deutschen fühlen sich als Verlierer, die Finnen als Gewinner

Globalisierung ist ein Schlüsselwort des 21. Jahrhunderts geworden. Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer einer globalisierten Welt? Der Begriff Globalisierung löst bei den Menschen in Europa höchst widersprüchliche Gefühle aus: Ein Drittel der Europäer sieht sich als Gewinner (33%) dieser Entwicklung: Jeder dritte Europäer empfindet die Globalisierung geradezu als Befreiung aus allzu engen und längst überholten Grenzen. Aufbruchstimmung auf dem Weg in eine lebenswerte Zukunft ist angesagt. Jeder fünfte Bürger sieht sich dagegen als Verlierer (21%). Nur in einem sind sich alle Europäer einig: Der Prozess der Globalisierung ist nicht mehr aufzuhalten und schon gar nicht zurückzudrehen. Dies geht aus den Ergebnissen der 1. Europastudie hervor, in der die BAT STIFTUNG FÜR ZUKUNFTSFRAGEN repräsentativ 11.000 Personen ab 14 Jahren in neun Ländern (Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland, Schweiz und Ungarn) nach ihren Zukunftshoffnungen und -ängsten befragt hat.
Innerhalb der einzelnen europäischen Staaten werden die Auswirkungen der Globalisierung höchst unterschiedlich gesehen: Über die Hälfte der Finnen (51%) zählt sich zu den Gewinnern. Ähnlich positiv blicken die Belgier (43%), Schweizer (43%) und Briten (39%) in die Zukunft. Und auch bei den Franzosen (37%), Italienern (25%) und Russen (24%) sind die Hoffnungen, von der Globalisierung profitieren zu können, größer als die Ängste. Anders sieht es dagegen bei den Ungarn und den Deutschen aus. In beiden Ländern glaubt nicht einmal jeder Fünfte (jeweils 19%) an positive Auswirkungen auf das zukünftige  Leben. „In beiden Ländern ist offensichtlich nicht die Globalisierung das Problem, sondern der Grad der Ungleichheit und die subjektiv wahrgenommene ungerechte Verteilung der Früchte der Globalisierung zwischen Gewinnern und Verlierern“, so Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, der Wissenschaftliche Leiter der Hamburger Stiftung. „Die Bürger haben Zweifel, ob die Verteilung sozial gerecht und fair ist.“

Gesundheit. Familie. Freundschaft.
Lebensqualität in Europa

Die beständigste und nachhaltigste Zukunftssicherung für alle Europäer ist, so weist die Studie nach, zweifellos die Lebensqualitätssicherung. Zu einem glücklichen Leben gehören in erster Linie die eigene Gesundheit (95%), die Familie (90%) und die Freunde (88%) – etwas nachgeordnet folgen Partnerschaft (78%), Natur, Bildung und Arbeit (jeweils 76%). Konsummöglichkeiten und Freizeit (jeweils 65%) werden nur noch von zwei Dritteln der Befragten als wichtig erachtet. Religion als Indiz für persönliches Wohlbefinden wird lediglich von einem Drittel (30%) genannt, selbst Sport (39%) erfreut sich einer größeren Beliebtheit.
Der Projektleiter der neuen Europastudie, Dr. Ulrich Reinhardt, ermittelte innerhalb der befragten Länder große Abweichungen:

  • Den Russen sind die Familie, Konsum und Geld besonders wichtig: Russland ist das einzige Land, bei dem die Familie (90%) an erster Stelle genannt wird und auch Konsummöglichkeiten (74%) liegen deutlich über dem Durchschnittswert. Dagegen erhalten Freundschaften (68%), die Bildung (62%) oder die Natur (48%) die vergleichsweise geringste Zustimmung.
  • Italiener sind Kulturliebhaber und stehen zu ihrem Glauben. In Italien spielen Kultur (76%) und Religion (48%) im Vergleich zu den übrigen Ländern eine überdurchschnittliche Rolle, dagegen haben Freizeit (51%) und Konsummöglichkeiten (53%) eine unterdurchschnittliche Relevanz.
  • Die Briten legen Wert auf ein lebenslanges Lernen. Die Bewohner des Vereinigten Königreiches nennen von allen Befragten am häufigsten die Bildung (86%) als Garanten für die Zukunft.
  • Die Finnen sind Naturliebhaber. Neben Natur (91%) nennen sie als besondere Lebensqualität: Freizeit (85%) und Sport (71%), Freundschaften (94%) und Partnerschaften (84%).
  • Für die Deutschen zählt Gesundheit (98%) zur wichtigsten Lebensqualität. Dagegen liegen sie bei der Einschätzung von Familie, Kultur und Religion jeweils an letzter Stelle aller befragten Nationen.
  • Die Ungarn melden Nachholbedarf am Konsumieren an. In keinem anderen Land spielen Konsummöglichkeiten (84%) eine größere Rolle.
  • Schweizer setzen auf Partnerschaft. Die Schweizer nennen insgesamt eine unterdurchschnittliche Anzahl von zukünftigen Lebensqualitätsmerkmalen – vielleicht auch, weil vieles schon heute vorhanden ist. Bei der Partnerschaft (83%) liegen sie über dem Durchschnitt, während die  Konsummöglichkeiten bei den Eidgenossen die geringste Zustimmung finden.
  • Franzosen wünschen sich von allem etwas. Die Franzosen nennen die meisten Nennungen aller befragten Personen. Besonders die Familie (95%) und die Kultur (75%) zählen für sie zur Lebensqualität.
  • Belgier legen besonderen Wert auf Konsummöglichkeiten (76%). In keinem anderen Land ist zudem der Wert für die Familie höher als in Belgien (95%).

Die Europäer wollen nicht zwangsläufig ihren Lebensstandard verbessern, sondern ihre Lebensqualität. Sie wollen Antworten auf die Frage haben, wofür sie leben. Die Befragten sind sich einig, die eigene Gesundheit ist „die“ Voraussetzung für Lebensqualität. In fast allen Ländern folgen dann die Familie und die Freunde auf den nächsten Plätzen. Dr. Ulrich Reinhardt: „Neben der Gesundheit setzen sich sozialorientierte Lebensbereiche durch. Arbeit, Konsum oder Freizeit stellen dagegen zunehmend Bereiche des Lebens dar, die zwar zum Leben dazu gehören, aber nicht mehr im Mittelpunkt stehen“.

Kriminalität. Aggressivität. Zu wenig Ehrlichkeit.
Die Zukunftssorgen der Europäer

Kriminalität ist das ungelöste Problem in Europa. Zwei Drittel (66%) der Befragten von Helsinki bis Rom, von Moskau bis Zürich und von Berlin bis London nennen – mit Abstand – die Angst um die eigene Sicherheit als größte Zukunftssorge. Die meisten Sorgen der Menschen konzentrieren sich dabei auf die Frage nach dem zwischenmenschlichen Umgang, die mit einem befürchteten Wohlstandsverlust einhergeht. Neben der Furcht vor Verbrechen geben die zunehmende Aggressivität (51%), die abnehmende Ehrlichkeit (41%), Egoismus (38%) oder Intoleranz (37%) Anlass zur Sorge. Die Folge können Vereinsamung (29%) oder soziale Ausgrenzung (27%) sein, wodurch soziale Konflikte fast vorprogrammiert sind. Das gesamte soziale Netz, das die Menschen verbindet, zusammenhält und auffängt, ist in Frage gestellt.
Im Nationenvergleich nennen die Einwohner unterschiedliche Ängste:

  • Kriminalität wird in der Schweiz (80%) am häufigsten, in Frankreich am seltensten genannt (49%).
  • Intoleranz erhält dagegen in Frankreich den höchsten (58%), in Russland den niedrigsten Wert (15%).
  • Auch Ausländerfeindlichkeit ist in Russland selten ein Thema (8%), dafür in der Schweiz besonders oft (44%).
  • Soziale Konflikte werden in Deutschland doppelt so häufig genannt (42%) wie in Italien (21%).
  • Neid ist in Belgien (39%) deutlich mehr ein Thema als im Vereinigten Königreich (15%).
  • Kinderfeindlichkeit ist in Ungarn (15%) selten von Relevanz, in Deutschland dagegen oft (40%).
  • Oberflächlichkeit als Zukunftssorge äußern mehrheitlich die Finnen (53%) und nur eine Minderheit der Briten (18%).

Der soziale Zusammenhalt als zentrale Ressource jeder Gesellschaft ist in Gefahr. An seine Stelle tritt eine Ansammlung einzelner Individuen, deren Verhalten von kurzfristigen Kosten-Nutzen-Rechnungen bestimmt sind und von der Frage geleitet sind: Was bringt mir das? Jede Gesellschaft braucht ein Mindestmaß an Solidarität und Zusammengehörigkeit, aber Voraussetzung für Gemeinschaft ist, dass die Menschen miteinander verbunden sind und sich für einander verantwortlich fühlen. Reinhardt: „Im gleichen Maße wie der Wunsch nach Gemeinschaft, Solidarität und Geborgenheit wächst, nehmen auch die Schwierigkeit zu, diese Sehnsüchte zu verwirklichen. Hier sind alle gefordert und aufgefordert. Die Politik kann nur Rahmenbedingen stellen, die Umsetzung liegt bei den Menschen“.

Freundschaft. Gerechtigkeit. Verlässlichkeit.
Die Zukunftswerte der Europäer

Die Europäer sind sich ihrer Ängste ebenso bewusst, wie auch den Ansätzen zur Lösung. Es zeichnet sich daher eine Wertewandel mit positiver Grundrichtung ab: Im Zentrum stehen prosoziale Werte, die auf ein glückliches Zusammenleben der Menschen ausgerichtet sind. Hierzu zählen Freundschaft (65%), soziale Gerechtigkeit (60%) und Verlässlichkeit (59%). Aber auch Liebe (58%), Hilfsbereitschaft (55%), Freiheit (53%) oder Freundlichkeit (50) finden die Zustimmung der Mehrheit der Befragten. Etwas nachgeordnet folgen Loyalität (48%), Pflichtbewusstsein und soziale Verantwortung (jeweils 46%) als Antworten auf die Frage, welche Werte den Befragten persönlich besonders wichtig sind.
Beim Ländervergleich der Antworten zeigen sich unterschiedliche Bedürfnisse nach Werten. So liegen die Nennungen für Hilfsbereitschaft, Pflichtbewusstsein und Verlässlichkeit nirgendwo höher als in Deutschland. In Großbritannien werden dagegen vor allem Freundlichkeit, Loyalität und soziale Verantwortung gefordert. In der Schweiz Liebe und Verantwortung oder in Finnland Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Professor Opaschowski: „Die Europäer wollen ein schnelles Ende der drohenden sozialen Erosion. Sie sind durchaus zu einer moralischen Erneuerung bereit. Die Untersuchungen in den neun europäischen Ländern haben gezeigt, dass sich für die Zukunft eine Renaissance des Vertrauens abzeichnet. Die Zuversicht der Bürger nimmt wieder zu. Das Zeitalter der Egoisten nähert sich langsam seinem Ende. Und an die Stelle von Beliebigkeit kann wieder Verlässlichkeit treten.“

Forschungsinformationen

Befragte Nationen: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland, Schweiz, Ungarn
Stichprobengröße: Insgesamt 11.000 Personen ab 14 Jahren
Methode: Repräsentative Face-to-Face-Befragung
Befragungszeitraum: 14. September bis 26. November 2007
Publikation: Eine ausführliche Publikation zur Studie wird Anfang 2008 veröffentlicht.

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

Tel. 040/4151-2264
Fax 040/4151-2091
guels@stiftungfuerzukunftsfragen.de

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