„Schafft die Spaßgesellschaft ab!“ 

Forschung aktuell, 160

10. April 2001

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„Schafft die Spaßgesellschaft ab!“

"Schafft die Spaßgesellschaft ab!"
Sonst geht die soziale Lebensqualität in Deutschland verloren

Die Entwicklung der Unterhaltungskultur in Deutschland hat eine kritische Grenze erreicht. Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat sich schon im letzten Jahr ernsthaft mit der Frage "Auf dem Weg in die Spaß- und Spottgesellschaft?" beschäftigt. Die Akademie für Politische Bildung Tutzing führte im Frühjahr 2001 die wissenschaftliche Fachtagung "Demokratie in der Spaßgesellschaft" durch. Und Mitte Mai widmen sich die Mainzer Tage der Fernsehkritik dem Thema "TV in der Spaßgesellschaft." Droht die TV-Erfolgsformel "Im Seichten kann man nicht untergehen" ins Bodenlose zu stürzen? Die Unterhaltungskultur in Deutschland steht derzeit auf dem Prüfstand. Mit den sozialen Folgen dieser Entwicklung setzt sich Univ.-Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, Wissenschaftlicher Leiter des B·A·T Freizeit-Forschungsinstituts, kritisch auseinander.
Gehört Fußball zur Grundversorgung der Bevölkerung mit wertvollen TV-Programmen? Ist der Grand Prix d’Eurovision ein Ereignis von überragendem kulturellen Wert? Müssen Spaß- und Unterhaltungssendungen ein unverzichtbares Leistungsangebot öffentlicher Fernsehanstalten sein? Immer mehr Zuschauer steigen auf flachere Programme um und arrangieren sich mit dem Niveauverlust, während Nachrichten und politische Programme auf der Strecke zu bleiben drohen. Mit der Qualitätsverschiebung ist die Ausbreitung einer Spaßkultur in Deutschland verbunden, die soziale Folgen hat. Für Univ.-Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, Wissenschaftlicher Leiter des B·A·T Freizeit-Forschungsinstituts, zeichnet sich ein grundlegender Einstellungswandel in der Bevölkerung ab. Sich vergnügen und amüsieren ist wichtiger als das Zusammensein mit anderen geworden. Die Spaßkultur verselbstständigt sich. Und so lautet seine Forderung: "Schafft die Spaßgesellschaft ab! Sonst geht die soziale Lebensqualität in Deutschland verloren."
Auf der Basis repräsentativer Befragungen von jeweils 2.000 Personen ab 14 Jahren hat das Freizeit-Forschungsinstitut von British American Tobacco in einem Zeitvergleich der Jahre 1990 und 2001 die Bevölkerung danach gefragt, was im Leben wirklich Spaß macht. Noch vor einem Jahrzehnt war die Mehrheit der Bevölkerung (60%) schon glücklich, wenn sie unbeschwert und sorglos leben konnte. Nur für die junge Generation der 14- bis 29-Jährigen hatte die Freude am Leben mehr mit Amüsement (60%) als mit Sorglosigkeit (49%) zu tun. Jetzt zeichnet sich quer durch alle Altersgruppen ein tiefgehender Wertewandel ab: Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung hat sich nun auch die Meinung der jungen Generation zu eigen gemacht und denkt beim Spaß erst einmal an das eigene Vergnügen (1990: 40% – 2001: 55%). Das Zusammensein mit anderen ist fast zweitrangig geworden (1990: 53% – 2001: 44%).
Insbesondere die junge Generation der 14- bis 29-Jährigen schwimmt heute mehr denn je auf der Spaßwelle des Lebens (1990: 60% – 2001: 71%). Für sie gilt: "Hauptsache Spaß" – mit oder ohne Freunde. Das Zusammensein mit anderen hat in ihrer Spaß-Skala des Lebens an Attraktivität eingebüßt (1990: 60% – 2001: 56%). Der Zeitgeist fordert seinen Tribut: Mehr als drei Viertel der Jugendlichen (77%) vertreten die Auffassung: "Sich gegenseitig helfen" macht "keinen Spaß"; auch die übrige Bevölkerung denkt nicht wesentlich sozialer (74%).
Dies bestätigen im übrigen auch Ergebnisse einer neueren Befragung, die das Institut für Demoskopie Allensbach zeitgleich mit dem B·A·T Institut im Januar 2001 durchgeführt hat. Das Allensbacher Institut spricht ebenfalls von einem "tiefgehenden Wertewandel". Soziale Motive wie Nächstenliebe ("Ganz für andere da sein, anderen helfen") und gesellschaftliche Verantwortung ("Mithelfen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen") haben in den letzten Jahren deutlich an Attraktivität verloren. "Dass der Sinn des Lebens umstandslos im Lebensgenuss liegt", war in den früheren Jahren "nie so direkt angesprochen worden" (Allensbacher Berichte Nr.5, 2001, S. 2).
Die Spaßgesellschaft ist nur eine Re-Aktion auf die Stressgesellschaft der vergangenen Jahre, eine Antwort auf die Krise der Arbeitswelt, den Turbo-Kapitalismus und die Schnelllebigkeit der Non-Stop-Gesellschaft. "Die Spaßgesellschaft als Übergangsgesellschaft kann nicht lange überleben", so Institutsleiter Opaschowski: "Die Menschen – zunächst verunsichert sowie hin- und hergerissen zwischen Stress und Spaß – werden sich schon bald für das Beständige einer neuen Leistungsgesellschaft entscheiden. Und das heißt: Anerkennung verdient, wer im Leben etwas leistet – im privaten Bereich genauso wie im Beruf."
Die Spaßgesellschaft könnte sich schon bald von selbst erledigen, weil die Zuschauer manchen Schwach- und Unsinn schnell satt haben und nach neuen, intelligenteren TV-Formaten verlangen, die Unterhaltung bieten, ohne Information, Kultur und Bildung zu vernachlässigen. Spaß im Leben muss deshalb nicht sterben. Ganz im Gegenteil: Das Spaßprinzip als Antriebsmotor für das persönliche Verhalten und als Leistungselixier für die Arbeit geht eher einer neuen Zukunft entgegen.

— Langfassung —

Frühe Warnungen.
Prognose aus dem Jahre 1987

"Auf der Spaß- und Glückswelle schwimmen die öffentlichen Fernsehanstalten. Fernsehen droht zum reinen Unterhaltungsmedium zu werden. Informations- und Bildungsfunktion des Fernsehens verlieren immer mehr an Bedeutung. Für die Zukunft gilt: Die Zuschauer werden sich immer mehr um Kultur-, Bildungs- und Politikprogramme drücken, um Spaß und Unterhaltung rund um die Uhr zu finden.
Was nachdenklich stimmt, ist die Doppelgesichtigkeit, ja Hilflosigkeit von Staat, Politik und öffentlichen Medien, die Information und Aufklärung, Bildung und Kultur versprechen, aber Spaß und Glücksspiele, Action und Entertainment vermitteln.
Spaß macht bald keinen Spaß mehr, weil sich die Spaßmacher immer mehr ins Fäustchen lachen. Der Spaß an der Freud droht zum Spaß-Syndrom zu werden."
H.W. Opaschowski: Vortrag auf derFachtagung "Quo vadis, Freizeit?" der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und des B·A·T Freizeit-Forschungsinstituts (Dokumentation), Hamburg 1987, S. 16
Im Orwell-Jahr 1984 soll Quizmaster Robert Lembcke die Misere der deutschen Unterhaltungskultur einmal so beschrieben haben: "Die Hölle stelle ich mir als einen Ort vor, an dem die Engländer kochen, die Italiener Lastwagen bewachen und die Deutschen Fernseh-Unterhaltungssendungen machen." Inzwischen hat sich die TV-Landschaft grundlegend verändert und TV-Unterhaltung schließt gleichermaßen "Entspannung und Ablenkung bis hin zu Realitätsflucht und Eskapismus" (Gerhards u.a. 2000, S. 100) mit ein. Fernsehen ist mittlerweile zum Massenmedium geworden, weil es in erster Linie ein Unterhaltungsmedium ist. Mehrheits- und quotenfähig sind heute Unterhaltungssendungen von Wetten, dass … bis Mainz, wie es singt und lacht.
Mit der Verbreitung des Massenmediums Fernsehen hat Unterhaltung eine neue Qualität bekommen. Fernsehen gilt immer dann als unterhaltsam, wenn es "durch neuartige Botschaften allgemeine Erregung evoziert, angenehme Stimmungen, Hintergrundemotionen oder leichte Gefühle erzeugt" (Winterhoff-Spurk 2000, S. 89) und natürlich auch Spaß und Genuss bereitet. Polarisierer und Provokateure sind zunehmend gefragt. Harald Schmidt und Stefan Raab kann man nur begeistert lieben oder gnadenlos hassen. Denn sie loten die Geschmacks- und Peinlichkeitsgrenzen schamlos aus.
Unterhaltung muss polarisieren: Die einen betrachten Unterhaltung als Niveauverlust, die anderen als Gewinn von Lebensfreude. Im ersten Fall wird eine Zerstörung von Kultur befürchtet, im anderen Fall erhofft man sich eine neue Kultur der Unterhaltung. Beide Positionen stehen sich zunächst unversöhnlich gegenüber. Die Konfrontation spitzt sich zu, wenn mit der Forderung Ernst gemacht wird: "Arbeit soll dem, der sie hat, Spaß machen. Glückliche Arbeit von glücklichen Menschen" (Schneider 2000, S. 27). Hierbei bekommt Spaß etwas Motivierendes, ja Leistungsförderndes. Daraus folgt: Die neue Spaßkultur ist nicht immer lustig. Wer gerne und mit Lust zur Arbeit geht, muss deswegen nicht permanent fröhlich sein. Heute macht fast alles, was im Leben nicht langweilt oder nervt, einfach Spaß. "Spaß" ist zur Chiffre für unbeschwerte Freude am Leben geworden. Aber auch Spaß ist nicht selten Ernst.
In der Unterhaltungsbranche kann es ein besonderer Spaß sein, beim verordneten Lachzwang gerade nicht zu lachen, weil man den Publikumsbetrug durchschaut. Kurt Felix, der Erfinder der TV-Sendung "Verstehen Sie Spaß?", die in den achtziger Jahren eine der erfolgreichsten Samstagabendshows war, kritisiert zu Recht ein zunehmend dressiertes Publikum in den Studios: "Wie ich das hasse, wenn eine Sendung künstlich beklatscht, belacht oder gar bekreischt wird. Wenn das Studiopublikum auf Anordnung hin Halligalli machen oder sich vor Vergnügen beölen und abrollen muss. Wenn Stimmung vorgegaukelt wird, wo gar keine ist. Warum sind die Leute so behämmert, selbst die laschesten Pointen hochzujubeln? Weil sie von den Fernsehmachern dazu aufgefordert werden. Und das ist Betrug am TV-Konsumenten" (Felix 2000; S. 190). Die Macher betrügen die Mitmacher auf eine doppelte Weise: Sie verkaufen die Studio-Gäste genauso wie die TV-Zuschauer für dumm und missbrauchen das Publikum als Applausvieh. Bekommen wir amerikanische Verhältnisse? In den USA sorgt derzeit die Samstagabend-TV-Sendung XFL für Furore: Immer, wenn das Publikum eingeblendet wird, zieht entweder eine Frau gerade ihr T-Shirt hoch oder ein paar Zuschauer prügeln sich …
Wenn Politiker heute zum Entertainer werden, schnappt immer öfter die Unterhaltungsfalle zu: Denn im Medienzeitalter stehen auch Politiker unter einem gewaltigen Unterhaltungsdruck, weil sie ihre Politik regelrecht "verkaufen" müssen und sie ohne Unterhaltungswert kaum noch vermitteln können. Politik wird zunehmend zu einem Medium der Unterhaltung. Dies führt leicht dazu, dass auch politische Sachverhalte, "die gar nichts Unterhaltsames an sich haben, mit dieser Brille zu sehen und unterhaltsam zu inszenieren" (Klenke 2000, S. 37) sind. Die Präsentation von Politik gleicht dann mehr einer Inszenierung von Politik. Ein Ausweg aus der Unterhaltungsfalle könnte darin bestehen, dass man sich wieder auf den kommunikativen Kern der Unterhaltung besinnt und Unterhaltung zur Interaktivität macht. Wie bei der Fernbedienung beim Fernsehen könnten im Internetzeitalter neue Kommunikationsformen entstehen.
Vor 75 Jahren führte die Zeitschrift "Der Deutsche Rundfunk" im Juli 1924 eine Leserbefragung durch. 8.000 Leser antworteten auf die Frage, was sie im Rundfunk hören wollten. 83 Prozent der Radiohörer wünschten sich Operetten, neun Prozent Predigten. Zwei Jahrzehnte später ermittelte die Zeitschrift "Radiowelt" im Jahre 1946 die Programmwünsche ihrer Leser: Wetterberichte, Nachrichten und Kabarett (Winterhoff-Spurk 2000, S. 81 ff.) waren jetzt in der Nachkriegszeit gefragt. Wie werden die Programmwünsche der Zuschauer, Zuhörer und Rezipienten im 21. Jahrhundert aussehen? Werden sich Enter-, Info-, Doku-, Edu- oder Confrontainment vermischen?
Der Schriftsteller Umberto Eco hat ein Szenario für das kommende Jahrhundert entworfen, in dem die Menschen mehr nach Gütern als nach Gutem streben und ein Ende der Ethik als Zukunftsvision möglich ist. Jahrhunderte lang bestand jede Moraldoktrin darin, ein Verhaltensmodell zu lancieren, dem der Einzelne nacheifern sollte. Das konnte die Vorbildfunktion des Heiligen, des Helden oder des Weisen sein. Das Vorbild nachzuahmen, ist dabei immer eine schwierige Lebenskunst gewesen.
Heute dagegen, "wo das Fernsehen mehr und mehr dazu übergeht, ’normale‘ Menschen als Vorbilder zu präsentieren, ist keine Anstrengung mehr erforderlich, wie diese zu werden. Wir möchten wie sie werden, da ihnen die Gunst zuteil wurde, auf dem Bildschirm zu erscheinen. In vielen Fällen möchten Menschen nicht wegen ihres ’normalen‘ Lebenswandels zum Vorbild werden, sondern wegen ihrer spektakulären Sünden (vorausgesetzt, diese Sünden geben ihnen Sichtbarkeit und Erfolg" (Eco 2000, S. 13). So stellen Monica Lewinsky, Jenny Elvers oder Zlatko wirksamere (weil einfacher zu erreichende) Vorbilder dar als Mutter Theresa aus Kalkutta. TV- und Medienpräsenzen entscheiden heute über den Vorbildcharakter. Das Ego sucht und findet seine Bühne der Selbstdarstellung.
Derzeit entsteht der Eindruck: Niemand muss sich heute noch von der elterlichen Garage bis zu den Brettern, die die Welt bedeuten, mühsam hocharbeiten. Das Fernsehen inszeniert jetzt alles selbst – vom Casting bis zum öffentlichen Auftritt. So werden Popstars regelrecht erfunden und konstruiert (wie z.B. bei der Musikband No Angels). Die Grenzen zwischen Fan und Star, Zuschauer und Akteur verwischen sich. Unausgesprochen wird suggeriert: Jeder kann es schaffen, wenn er nur will. Für fast jedes Ego stehen ein Drehbuch, eine Rolle und eine Bühne bereit.
Es droht eher ein Leben aus zweiter Hand: statt direkter Erfahrung und eigenem Erleben auf den Straßen und Plätzen, in Stadtteil und Wohnquartier werden medial konstruierte Einheitserlebnisse geboten, die den Anschein erwecken, als sei man selbst dabei gewesen – im Container, auf der Talk-Show-Bühne oder bei einem aktuellen TV-Event. Die Sinne der Rezipienten, Zuschauer und Konsumenten sind nur noch auf das konzentriert, was Erlebnismacher vorher für sie arrangiert und inszeniert haben. Verarmen unsere Sinne?
Schon in den siebziger Jahren hat der Amerikaner Jerry Mander das Strukturmuster eines medial vermittelten Lebens analysiert und kritisiert, weil es unter dem Anschein des Authentischen oft nur die halbe Wahrheit widerspiegelt. Als mediale Grundprinzipien gelten beispielsweise (vgl. Mander 1979, S. 274 ff.):

  • Gewalt ist medienwirksamer als Gewaltlosigkeit.
  • Krieg ist medienwirksamer als Frieden.
  • Tod ist medienwirksamer als Leben.
  • Angst ist medienwirksamer als Gelassenheit.
  • Konkurrenz ist medienwirksamer als Kooperation.
  • Aktivität ist medienwirksamer als Inaktivität.
  • Das Laute ist medienwirksamer als das Leise.
  • Das Spektakuläre ist medienwirksamer als das Vieldeutige.
  • Das Ausgefallene ist medienwirksamer als das Gewöhnliche.
  • Das Besondere ist medienwirksamer als das Allgemeine.
  • Das Verbale ist medienwirksamer als das Nonverbale.
  • Eine kurze Information ist medienwirksamer als ein ausgedehnter Bericht.
  • Oberflächlichkeit ist medienwirksamer als Tiefgang.
  • Subjektives ist medienwirksamer als Objektives.

Dies alles sind medienwirksame bzw. "mediengerechte" Ingredienzien, die Höhepunkte bzw. Highlights demonstrieren oder auch arrangieren. So entsteht das Bild einer Extremgesellschaft zwischen Ernst und Spaß. Das wirkliche Leben aber findet "dazwischen" statt.
"The bad news are the better news" gilt seit jeher als erfolgsträchtige Medienformel. Wenn sich beispielsweise heute in Deutschland mehr als zwei Drittel der Fußball-Berichterstattungen um Abstiegsfragen drehen und aktuelle Sportberichte Krisendiskussionen, Katastrophenszenarien und Entlassungsgerüchten gleichen (vgl. Hoffmann 2001), während in südeuropäischen Ländern leidenschaftlich über Meister und Siege diskutiert wird, dann wird deutlich, wie selektiv und einseitig die Medienwirklichkeit oft nur die halbe Wahrheit widerspiegelt.
So gesehen ist auch die Spaßgesellschaft nur eine medial konstruierte Scheinwelt, die den Menschen als Wirklichkeit verkauft wird. Die Forderung "Schafft die Spaßgesellschaft ab!" macht Ernst mit der sozialen Verantwortung für nachwachsende Generationen. Können Kinder und Jugendliche künftig noch zwischen Wirklichkeit und Scheinwirklichkeit unterscheiden, zwischen realem Leben und Wirklichkeit aus der Retorte bzw. aus dem Container? Was ist noch real bei Reality-TV und Real-Life-Soap? Dominieren in der Medienwelt fun und action, während das reale Leben dagegen langweilig erscheint? Hier also ist die Grenze sozialer Verantwortungslosigkeit erreicht: Die Mediengesellschaft entlässt ihre Kinder – wohin? Kinder und Jugendliche, die in einer solchen medial vermittelten Welt aufwachsen, in der Gewalt, Konkurrenz und Oberflächlichkeit dominierende Prinzipien sind, könnten auf Dauer ihre soziale Sensibilität verlieren: Wegschauen würde wichtiger als Zuhören werden.
Das 21. Jahrhundert wird vor allem ein Erlebniszeitalter sein, das Events in Serie produziert und rund um die Uhr das "Bleiben-Sie-dran!" propagiert: "Event im Trend" und "Event is your friend". Und das heißt konkret: Immer dabei sein müssen, alles erleben wollen und nichts verpassen dürfen. Anstelle der von Experten vorausgesagten Informationsgesellschaft wird die Zukunft eher einer Infotainment-Gesellschaft gehören, die auf Information nicht verzichten kann und auf Entertainment nicht verzichten will. Das ganze Leben wird zum Event – so will es der Zeitgeist des 21. Jahrhunderts.
Es wächst eine Erlebnisgeneration heran, die sich zwischen Konsumhaltung und Verweigerungshaltung entscheiden muss. Während die Masse der Consumer aus Zeitnot kaum eine Aktivität zu Ende führen bzw. eine Sendung zu Ende sehen kann, verhält sich die kleine Gruppe der Verweigerer fast wie eine postmediale Generation: Raus aus dem medialen Zeitkorsett und weg von sinnentleerten TV-Ritualen, Ausstieg aus Cliquenzwängen, Gruppennormen und oberflächlichen Beziehungen. Statt Beliebigkeit und Unverbindlichkeit wird von ihnen mehr Konstanz im Leben gesucht. Dies kann sich nur eine Info- und Bildungselite leisten – die Masse bleibt weitgehend im Käfig der Konsumkultur: Nie ganz dabei – aber immer auf dem Sprung zum nächsten medialen Ereignis.
Die Vorentscheidung für den Grand Prix d’Eurovision im Frühjahr 2001 sollte der Countdown für den raketenhaften Aufstieg einer deutschen Spaßgesellschaft sein. In Wirklichkeit ging der Schuss nach hinten los: Zlatko, Moshammer & Co. wurden zur Lachnummer der Nation. Die Zuschauer haben ernsthaft mitgespielt, die billige Gaga-Strategie schnell durchschaut – und die Spaß-Kandidaten entsprechend abgestraft. Der Auftritt geriet zum Absturz. Der von Kulturpessimisten befürchtete Kulturverfall fand nicht statt. Gesiegt hat auf der ganzen Linie die Kultur oder richtiger: eine neue Kultur der Unterhaltung, die sich ernsthaft dem musikalischen Wettbewerb stellte, ohne deswegen auf Spaßelemente zu verzichten.
Machen wir uns nichts vor: Der Grand Prix d’Eurovision drohte Mitte der neunziger Jahre insbesondere für die junge Generation in Routine und Ritualen zu erstarren. Tödliche Langeweile breitete sich aus. Guildo Horn, Stefan Raab und ihre Jünger haben den Grand Prix vor dem sicheren Siechtum bewahrt und Unterhaltung wieder zum Event gemacht – zum inszenierten Ereignis, über das die Medien berichten, bevor es überhaupt stattgefunden hat. Die Zuschauer haben eine Zeitlang diese Verballhornung mitgemacht – um den Grand Prix zu retten. Das war Galgenhumor pur. Die vielkritisierte Spaßgesellschaft ist – in einer Phase der Verunsicherung – nur ein Übergangsphänomen auf dem Wege zu einer neuen Unterhaltungskultur gewesen, in der Ernst und Spaß wieder eine Vernunftehe eingehen müssen.
Von der Spaßgesellschaft heißt es Abschied nehmen, aber die Unterhaltungskultur lebt weiter. Denn die Zuschauer bleiben unerbittlich. Insbesondere Voyeure und Neugierige, die mehr an Show als an Musik interessiert sind und TV-Anbietern hohe Einschaltquoten bescheren, wollen jedes Jahr ihren Spaß und ihre Sensation. Sonst verliert das Massenspektakel schnell seinen Reiz. Die eigentliche Bewährungsprobe wird der Grand Prix erst im Jahre 2002 bestehen müssen, wenn die Zuschauer von Klamauk nichts mehr wissen, auf so genannte Spaß-Kandidaten nicht mehr verzichten und Chansons mit einem Hauch von Langeweile nicht mehr hören wollen. Ob es gefällt oder nicht: Die Unterhaltungskultur des 21. Jahrhunderts muss immer auch eine Spaßkultur sein. Es muss etwas Auf- und Anregendes passieren, was alle bewegt und interessiert wie beim Fußball oder Formel-1-Rennen auch. Sonst schaltet der Zuschauer ab. Spaßkultur als bloßer FUN-atismus überlebt sich schnell wie eine Eintagsfliege. Aber das Spaßprinzip als Lebenselixier, d.h. als Ausdruck von Motivation, Begeisterung und Lebensfreude wird in Zukunft – im öffentlichen Leben genauso wie im privaten Bereich – immer wichtiger.
Die Entwicklung der Unterhaltungskultur in Deutschland hat eine kritische Grenze erreicht. Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat sich schon im letzten Jahr ernsthaft mit der Frage "Auf dem Weg in die Spaß- und Spottgesellschaft?" beschäftigt. Die Akademie für Politische Bildung Tutzing führte im Frühjahr 2001 die wissenschaftliche Fachtagung "Demokratie in der Spaßgesellschaft" durch. Und Mitte Mai widmen sich die Mainzer Tage der Fernsehkritik dem Thema "TV in der Spaßgesellschaft." Droht die TV-Erfolgsformel "Im Seichten kann man nicht untergehen" ins Bodenlose zu stürzen? Die Unterhaltungskultur in Deutschland steht derzeit auf dem Prüfstand.
Gehört Fußball zur Grundversorgung der Bevölkerung mit wertvollen TV-Programmen? Ist der Grand Prix d’Eurovision ein Ereignis von überragendem kulturellen Wert? Müssen Spaß- und Unterhaltungssendungen ein unverzichtbares Leistungsangebot öffentlicher Fernsehanstalten sein? Immer mehr Zuschauer steigen auf flachere Programme um und arrangieren sich mit dem Niveauverlust, während Nachrichten und politische Programme auf der Strecke zu bleiben drohen. Mit der Qualitätsverschiebung ist die Ausbreitung einer Spaßkultur in Deutschland verbunden, die soziale Folgen hat. Ein grundlegender Einstellungswandel zeichnet sich in der Bevölkerung ab. Sich vergnügen und amüsieren ist wichtiger als das Zusammensein mit anderen geworden. Die Spaßkultur verselbstständigt sich. "Schafft die Spaßgesellschaft ab! Sonst geht die soziale Lebensqualität in Deutschland verloren": So kann nur die Forderung an die Zukunft lauten.
Auf der Basis repräsentativer Befragungen von jeweils 2.000 Personen ab 14 Jahren hat das Freizeit-Forschungsinstitut der British American Tobacco in einem Zeitvergleich der Jahre 1990 und 2001 die Bevölkerung danach gefragt, was im Leben wirklich Spaß macht. Noch vor einem Jahrzehnt war die Mehrheit der Bevölkerung (60%) schon glücklich, wenn sie unbeschwert und sorglos leben konnte. Nur für die junge Generation der 14- bis 29-Jährigen hatte die Freude am Leben mehr mit Amüsement (60%) als mit Sorglosigkeit (49%) zu tun. Jetzt zeichnet sich quer durch alle Altersgruppen ein tiefgehender Wertewandel ab: Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung hat sich nun auch die Meinung der jungen Generation zu eigen gemacht und denkt beim Spaß erst einmal an das eigene Vergnügen (1990: 41,% – 2001: 55%). Das Zusammensein mit anderen ist fast zweitrangig geworden (1990: 53% – 2001: 44%).
Insbesondere die junge Generation der 14- bis 29-Jährigen schwimmt heute mehr denn je auf der Spaßwelle des Lebens (1990: 60% – 2001: 71%). Für sie gilt: Hauptsache Spaß – mit oder ohne Freunde. Das Zusammensein mit anderen hat in ihrer Spaß-Skala des Lebens an Attraktivität eingebüßt (1990: 60% – 2001: 56%). Der Zeitgeist fordert seinen Tribut: Mehr als drei Viertel der Jugendlichen (77%) vertreten die Auffassung: "Sich gegenseitig helfen" macht "keinen Spaß"; auch die übrige Bevölkerung denkt nicht wesentlich sozialer (74%).
Dies bestätigen im übrigen auch Ergebnisse einer neueren Befragung, die das Institut für Demoskopie Allensbach zeitgleich mit dem B·A·T Institut im Januar 2001 durchgeführt hat. Das Allensbacher Institut spricht ebenfalls von einem "tiefgehenden Wertewandel". Soziale Motive wie Nächstenliebe ("Ganz für andere da sein, anderen helfen") und gesellschaftliche Verantwortung ("Mithelfen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen") haben in den letzten Jahren deutlich an Attraktivität verloren. "Dass der Sinn des Lebens umstandslos im Lebensgenuss liegt", war in den früheren Jahren "nie so direkt angesprochen worden" (Allensbacher Berichte Nr.5, 2001, S. 2).
Die Spaßgesellschaft ist nur eine Re-Aktion auf die Stressgesellschaft der vergangenen Jahre, eine Antwort auf die Krise der Arbeitswelt, den Turbo-Kapitalismus und die Schnelllebigkeit der Non-Stop-Gesellschaft. Die Spaßgesellschaft als Übergangsgesellschaft kann nicht lange überleben. Die Menschen – zunächst verunsichert sowie hin- und hergerissen zwischen Stress und Spaß – werden sich schon bald für das Beständige einer neuen Leistungsgesellschaft entscheiden. Und das heißt: Anerkennung verdient, wer im Leben etwas leistet – im privaten Bereich genauso wie im Beruf.
Die Spaßgesellschaft könnte sich schon bald von selbst erledigen, weil die Zuschauer manchen Schwach- und Unsinn schnell satt haben und nach neuen, intelligenteren TV-Formaten verlangen, die Unterhaltung bieten, ohne Information, Kultur und Bildung zu vernachlässigen. Spaß im Leben muss deshalb nicht sterben. Ganz im Gegenteil: Das Spaßprinzip als Antriebsmotor für das persönliche Verhalten und als Leistungselixier für die Arbeit geht eher einer neuen Zukunft entgegen.
Bei aller berechtigten Kritik an den Exzessen einer vermeintlichen Spaßgesellschaft sollte nicht übersehen werden, dass im subjektiven Empfinden der Bevölkerung der Spaßbegriff heute auch ernste Lebensbezüge hat. Zwei von fünf Bundesbürgern verbinden damit primär eine Empfindung der Freiheit von Sorge, Zeitdruck und Geldnot. Konkret: Unbeschwert leben, also keine Sorgen haben (41%), ohne Zeitdruck sein (40%) und nicht auf das Geld achten müssen (40%) beschreiben das Lebensgefühl der Menschen in einer Mischung aus Freiheit, Freiwilligkeit und Lebensfreude.
Mit dem Wort Spaß verbinden einige Bevölkerungsgruppen ganz unterschiedliche Vorstellungen:
Im Vergleich zu den Frauen betonen Männer mehr die Freiheit, "tun und lassen zu können, was man will" (42% – Frauen: 37%); "keine lästigen Verpflichtungen zu haben" (33% – Frauen: 28%) und sich über "Erfolgserlebnisse" (30% – Frauen: 26%) zu freuen.
Für Frauen fängt die Freude am Leben eher mit dem sozialen Wohlfühlen an: "Mit anderen zusammen sein" (46% – Männer: 42%) sowie "Verständnis für einander haben" (29% – Männer: 26%).
Auch in der ostdeutschen Bevölkerung hat die soziale Dimension des Verhaltens eine Bedeutung, die mit dem Spaßbegriff in Verbindung gebracht wird wie z.B. "sich gegenseitig helfen" (31% – Westdeutsche: 24%).
Westdeutsche finden hingegen mehr Gefallen daran, "sich unterhalten und berieseln zu lassen" (28% – Ostdeutsche: 22%). Und sie sind glücklicher, wenn sie "frei von Vorschriften und Gängelei" (28% – Ostdeutsche: 23%) sein können.
Spaß ist heute aus dem Bewusstsein und Verhalten der Menschen nicht mehr wegzudenken. Spaß ist ein Symbol für vieles: Ein Ausdruck für innere Zufriedenheit und für stilles Glück genauso wie für hochgradige Motivation: Spaß haben heißt vor allem: Augenblicklich keine Sorgen haben, weder unter Zeitdruck noch unter Geldnot leiden und etwas gerne und freiwillig tun. Über eine Rehabilitation des Spaßbegriffs muss ernsthaft nachgedacht werden. Spaß hat heute die Bedeutung eines Lebenselixiers bekommen und kommt dem Glücksgefühl sehr nahe:

  • Sich frei fühlen und sorgenfrei leben,
  • sich unbeschwert freuen, fröhlich und ausgelassen sein,
  • inmitten Gleichgesinnter sein und
  • persönliche Erfolgserlebnisse haben

– dies alles meint heute "Spaß", was früher "Glück" genannt wurde.

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

Tel. 040/4151-2264
Fax 040/4151-2091
guels@stiftungfuerzukunftsfragen.de

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