Die neue Lust auf Stadt. 

Forschung aktuell, 188

17. Oktober 2005

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Die neue Lust auf Stadt.

Die neue Lust auf Stadt.
Abschied vom urbanen Pessimismus

In der Nach-68er-Zeit breitete sich in Deutschland ein urbaner Zukunftspessimismus aus. Die Sozialforschung prognostizierte den Niedergang der Städte und klagte über ihre „Unwirtlichkeit“ als Anstiftung zum Unfrieden. „Rettet unsere Städte jetzt!“ lautete die dramatische Forderung des Deutschen Städtetages 1971. Das alles war einmal. Jetzt lautet die Leitlinie eher: „Die Zukunft entscheidet sich in den Städten!“ und „Ohne Städte ist kein Staat zu machen!“ Die Deutschen entdecken die Qualität des Stadtlebens wieder, die Innenstadt als lebenswerten Wohnraum, in dem sich die Menschen wohlfühlen können. Fast drei Viertel der Bevölkerung (71%) schätzen die historischen Innenstädte als touristische Attrak-tion, finden an den gepflegten Grün- und Parkanlagen Gefallen (71%) und freuen sich über die gute Erreichbarkeit der Innenstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln (69%). Dies geht aus einer aktuellen Repräsentativstudie des BAT Freizeit-Forschungsinstituts hervor, die unter dem Titel „Besser leben, schöner wohnen? Leben in der Stadt der Zukunft“ im Primus Verlag (Darmstadt) erscheint.

Vom Generationenhaus bis zur Baugemeinschaft.
Zukunftswünsche der Bevölkerung

„In den Wunschvorstellungen der Bevölkerung gleicht die Stadt der Zukunft einem modernen ‚Sesam-öffne-dich’“, so Prof. Dr. Horst W. Opaschowski, der Wissenschaftliche Leiter des Instituts und Autor des Buches. „Wichtig und attraktiv ist fast alles, was das Leben in der Stadt gut, schön und lebenswert macht.“ Gewünscht wird neben einem vielfältigen Kulturangebot (67%) und einem abwechslungsreichen öffentlichen Leben auf Straßen und Plätzen (66%) eine hohe Erlebnisqualität im Wohnumfeld (64%). Zu diesem urbanen Wohlfühlen gehört die Sauberkeit (68%) ebenso dazu wie das Sicherheitsgefühl (62%).
In der Stadt der Zukunft wollen die Menschen auch neue Wohnformen zur Miete oder zum Eigentum – von der Baugemeinschaft über das Generationenhaus bis zur Senioren-WG – verwirklichen können. Eine Antwort auf die demografische Entwicklung in Deutschland werden in Zukunft Mehr-Generationen-Wohngemeinschaften sein. Zwölf von hundert Bundesbürgern präzisieren diesen Wunsch ganz konkret: „Mein Zukunftstraum ist eine Wohngemeinschaft in einem Haus, in dem mehrere Generationen eine eigene Wohnung haben und jederzeit in Gemeinschaftsräumen zusammenkommen können, aber nicht müssen.“ Gemeinschaftsräume werden zum erweiterten Kinderzimmer und eröffnen insbesondere berufstätigen Eltern und Alleinerziehenden Freiräume für Aufsicht und Betreuung.
Professor Opaschowski: „Alle unter einem Dach – aber jede(r) für sich. Eine ebenso kommunikative wie individualistische Form des Wohnens, die Zusammensein genauso wie Alleinsein ermöglicht und zugleich Vereinsamung verhindern hilft. Das wird auch eine lebenswerte Alternative für die wachsende Zahl von Singles und Senioren sein.“ Das Interesse an einem konfliktfreien Zusammenleben der Generationen nimmt zu. Die Mehr-Generationen-WG gewährt Sicherheit und soziale Geborgenheit. Sie stellt eine zukunftsfähige Wohnform dar. Denn sie ermöglicht beides: Nähe und Distanz.

„Lebensstil zu vermieten!“
Die Zukunftsofferte von Wohnungsbaugesellschaften

Die Wohnung gilt – nach der Kleidung – als die „dritte Haut“ des Menschen: Status, Selbstbild, Lebensstil – alles spiegelt sich hier wider. Der prognostizierte Bevölkerungsrückgang lässt in Zukunft mehr Frei-Raum zur Inszenierung der eigenen Person im jeweilig gewünschten sozialen Milieu. Immer öfter stellt sich dann die Frage: „Welche Wohnung passt zu mir?“
Jeder vierte Bundesbürger (26%) will in Zukunft in einer Wohnanlage mit Menschen in der Nachbarschaft leben, die „gleiche oder ähnliche Interessen haben.“ Breiten sich dann spezielle Wohnquartiere nur für Singles oder Paare, Familien, Rentner oder Zuwanderer aus? Opaschowski: „Immer mehr Menschen wollen in Zukunft Lebensstile und nicht nur Wohnhäuser kaufen. Wohnungsbaugesellschaften werden dann bemüht sein, Wohnsiedlungen mit gemeinsamen Interessen zu offerieren und ein Leben unter Gleichgesinnten zu garantieren.“ In solchen Interessen-WG-Häusern werden geradezu Lebensstile zementiert. Hier können dann Hilfesuchende und Hilfsbereite, Kontaktsuchende und Kontaktfreudige mit- und nebeneinander wohnen und leben.
Wechselnde Lebensstile entscheiden über die Wohnformen der Zukunft: Flexibles Wohnen ist angesagt. In einer Gesellschaft des langen Lebens werden die Wohnformen wesentlich von wechselnden Lebensphasen bestimmt und immer weniger nur eine Frage des Milieus (z.B. soziale Herkunft, Bildung) oder des Geldes sein. Opaschowski: „Idealiter müsste mit jeder neuen Lebensphase das Haus umgebaut oder neu eingerichtet werden. Wer seine Arbeit oder seinen Partner wechselt, zieht woanders hin. Und wer neue Gleichgesinnte sucht, wählt eine Interessen-WG auf Zeit.“
So gesehen wird es bald keine Standardwohnung mehr geben. Die Im-mobilien „verzeitlichen“ sich – als Lebensabschnittshäuser, -wohnungen oder -wohngemeinschaften: Für Familien oder Alleinlebende, Singles oder Senioren. Mehr als jeder vierte Bundesbürger im Alter von über 65 Jahren (27%) wünscht sich eine Gemeinsame-Interessen-Wohnanlage (GIW). Das können auch neuartige Baugemeinschaften mit Genossenschaftscharakter oder Hausgemeinschaften für Senioren sein, in denen eigenständig und selbstbestimmt in eigenen Räumen gewohnt, aber auch Gemeinschaftsbereiche genutzt werden können. Solche Hausgemeinschaften bieten Kommunikationsmöglichkeiten und garantieren zugleich soziale Betreuung im Fall der Pflege. „Anders wohnen“ heißt in Zukunft: Im Kontakt mit Jüngeren nicht allein alt werden.

Shopping. Szene. Straßencafés.
Die Sonnenseiten des Lebens in der Stadt

Nicht jeder Städter kann sich alles leisten. Aber es tut offensichtlich gut und trägt zum Wohlbefinden bei, jederzeit flanieren zu können, ohne gleich etwas kaufen oder besitzen zu müssen. Jeder zweite Bundesbürger verbindet mit dem Gedanken an die Stadt der Zukunft die Vielfalt der Einkaufsmöglichkeiten (52%) und die gute Erreichbarkeit (43%). Das macht den Reiz des Stadtlebens aus: In Einkaufspassagen bummeln (49%), in Straßencafés verweilen (36%), sich an den gepflegten Grünanlagen erfreuen (30%), etwas für die Bildung tun (29%) und kulturelle Veranstaltungen besuchen (36%). Das ist die sympathische Seite städtischen Lebens. Armut und Alter, Angst und Arbeitslosigkeit werden dabei vorübergehend ausgeblendet. Im städtischen Leben wollen sich die Menschen möglichst jenseits von sicht- und spürbarer Not und Notwendigkeit bewegen. Hier gibt und zeigt man sich anders als zu Hause, konsum- und kontaktfreudiger, lebens- und unternehmungslustiger. Stadtleben bedeutet für viele: Tapetenwechsel. Szenenwechsel. Rollenwechsel.
Wenn alles getan ist – dann leben die Städter auf. Dann wollen sie etwas und vor allem sich selbst erleben. Dann haben sie freie Zeit und suchen Freizeitorte auf – im Grünen, im Freien und in frischer Luft. Aber auch kommunikative Treffpunkte beim Shopping, Aus- und Essengehen sind gefragt. Opaschowski: „Das urbane Freizeitleben der Zukunft spielt sich zwischen Natur, Kultur und Kulinarik ab. Parks, Passagen, Pubs und Pinten sind die attraktivsten Freizeitorte in der Stadt. Sie ermöglichen Entspannen und Erleben, Kontakt und Konsum.“
Stadtparks (91%) und Naherholungsgebiete (87%), Restaurants (87%) und Cafés (84%), Fußgängerzonen (86%) und Einkaufspassagen (83%) stehen in der Gunst der Städter ganz oben. Inmitten von städtischem Grün wollen die Menschen Kommunikation und Kulinarisches genießen, die unverbindlichen Kontakte, die zwanglose Zerstreuung, Unterhaltung und Geselligkeit sowie die Freude am guten Essen und Trinken. Auch traditionelle Kultureinrichtungen wie Theater (67%) und Museen (65%), Konzertsäle (60%) und Kunstgalerien (53%) gehören dazu, wenn sie auch deutlich weniger favorisiert werden. Unter 40 attraktiven Freizeitorten in der Stadt rangiert beispielsweise die Oper an letzter Stelle (43%). Sehr viel höher schätzen die Bürger das Hallenbad (81%), den Spielplatz oder die Sportanlage (je 78%) ein. Hier kann man sich erholen, frei und zwanglos sein. Niemand will etwas, niemand muss etwas tun.

Kommunale Defizite.
Klagen über Kinderunfreundlichkeit und hohe Mieten

In den Großstädten Deutschlands bekommen die Kinder in Zukunft Minderheiten-Status. Seit 1900 hat sich der Anteil der Ein- und Zwei-Personen-Haushalte in Deutschland von 22 Prozent (1900) auf 70 Prozent (2005) mehr als verdreifacht. Und seit Mitte der sechziger Jahre halbierte sich die Zahl der Geburten von 1,4 Millionen (1964) auf 0,7 Millionen (2005). Deutschland zählt zu den Ländern in der Welt mit der niedrigsten Geburtenrate und der höchsten Kinderlosigkeit.
Die Kinderlosigkeit in Deutschland ist keine reine Privatangelegenheit. Sie hat tiefergehende gesellschaftliche Ursachen. Denn es mangelt bisher an positiv motivierenden Leitbildern und Wertvorstellungen in der Gesellschaft, um Kinder zu bekommen. Und es fehlen familienunterstützende Dienstleistungen im Hinblick auf Wohnungsbau, Verkehrsplanung und Freizeitangebote. Ein Grund, warum die meisten Großstädte in Deutschland von den eigenen Bewohnern als „nicht kinderfreundlich“ bewertet werden – am meisten in Frankfurt (64%), Essen (62%), Dortmund (59%), Berlin (57%), Köln (55%) und Hamburg (54%), am wenigsten in Bremen (36%), Stuttgart (45%) und München (47%).
Die Bundesbürger machen die Erfahrung, dass heute in den Kommunen Mängel fast nur noch verwaltet werden. Das Stadtbild wird mehr durch Schlaglöcher als durch Neubauten geprägt. Kritisiert werden neben den Schlaglöchern auf den Straßen vor allem Mängel in der Kinder- und Familienpolitik – von den fehlenden Kinderspielplätzen (26%) über mangelnde Ganztagsbetreuung für Kinder (26%) bis hin zu familienfeindlichen Strukturen (15%). Und mehr als jeder fünfte Befragte registriert mittlerweile ungepflegte Grünanlagen (23%) und fühlt sich durch das unsaubere Stadtbild (21%) abgestoßen. Und von bürgernaher Verwaltung können manche Bewohner nur träumen. Statt gemeinsam gegen die Mängel vor Ort anzugehen, ist eher eine mangelnde Kooperation feststellbar (22%). So wird letztlich überall gespart – an Geld und an Gemeinsamkeit.
Beim Gedanken an das Leben in der Stadt der Zukunft eskalieren die Probleme – vor allem im sozialen Bereich:

  • Fast jeder zweite Westdeutsche (46% – Ostdeutsche: 32%) erwartet für die Zukunft hohe Mieten, die kaum mehr bezahlbar sind.
  • Die Ostdeutschen befürchten in erster Linie wachsende Kriminalität (42% – Westdeutsche: 40%).

Übereinstimmend vertreten West- wie Ostdeutsche die Auffassung, dass das Stadtbild der Zukunft durch Stress und Unruhe (je 34%) sowie durch Armut und Elend (je 27%) geprägt sein wird.
In den Zukunftsängsten der Bevölkerung spiegeln sich die Wirtschaftsprobleme der vergangenen Jahre wider. Arbeitslosigkeit und die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes in Verbindung mit der Vor-„Sorge“ um Alters- und Rentensicherung stellen erstmals den Erhalt des Lebensstandards (und nicht nur der Lebensqualität) in Frage. Es geht um existentielle Fragen von Wohnen, Essen und Kleiden. Für jeden dritten Bundesbürger (33%) ist klar: „Das Allerwichtigste ist für mich in Zukunft bezahlbarer Wohnraum in zentraler Lage“. Die Angst ist groß, wider Willen aus der Stadt gedrängt zu werden. Vor allem junge Leute im Alter bis zu 34 Jahren (39%) wollen beim Wohnen auf die Citynähe nicht verzichten.
Professor Opaschowski: „Der Wohnwunsch ‚Bezahlbare Wohnung in zentraler Lage’ gleicht einer Quadratur des Kreises. Denn Citywohnen stößt erfahrungsgemäß schnell an die Grenze der Finanzierbarkeit.“ Arbeiter (42%) sowie Bezieher niedriger Einkommen unter 1.750 Euro (36%) äußern diesen Wunsch am meisten – wohlwissend oder ahnend, dass dieser Wunsch in Zukunft kaum einlösbar ist. Hier können Baugemeinschaften Abhilfe schaffen, in denen Gleichgesinnte zusammen planen, als Bauherren, Investoren und Bewohner fungieren und Wohnen in der Stadt zu bezahlbaren Preisen möglich machen.

Metropolen mit Profil.
Lebensqualitäts-Ranking der zehn größten Städte

Wo lebt es sich am besten? Bei der Beantwortung dieser Frage stimmen die Bewohner in den zehn größten Städten Deutschlands weitgehend überein: 85 Prozent der Bundesbürger halten ihre Stadt für lebenswert – allerdings mit großen Schwankungsbreiten von 70 Prozent (Dortmund) bis zu 91 Prozent (Hamburg). Die Deutschen wissen zudem den Abwechslungsreichtum (82%) und die Weltoffenheit (81%) des Lebens in der Stadt zu schätzen.
Zugleich decken sie schonungslos die sozialen Defizite des Stadtlebens auf: Für Kinderfreundlichkeit (46%), Familienfreundlichkeit (49%) und Seniorenfreundlichkeit (49%) finden sich in der Bevölkerung keine Mehrheiten mehr. Dies sind offensichtlich die größten Herausforderungen für das Leben in der Stadt der Zukunft. Professor Opaschowski: „Die Kommunalpolitiker haben für viele Grünflächen, ein vielfältiges Kulturangebot und ein abwechslungsreiches Freizeitangebot gesorgt, aber die Menschen zu wenig zum freundlichen Umgang miteinander motiviert und aktiviert. In der Stadt ‚ist immer etwas los’ und ‚kommen auch alle auf ihre Kosten’. Nur: Der soziale Kitt wurde dabei nicht selten vergessen.“
Viele Stadtbewohner leben offensichtlich für sich und vor sich hin. Bei Stadtfesten und Mega-Events werden Weltoffenheit und touristische Attraktivität demonstriert, ohne gleichzeitig mitmenschliche Nähe oder nachbarschaftliche Verbundenheit mit anzuregen. Das Feuerwerk brennt ab – und die Menschen driften in sozialer Gleichgültigkeit wieder auseinander. Eine Stadt ohne kinderfreundliches Klima kann keine nachhaltige Zukunft vor sich haben.
In der Einschätzung der Bewohner ist – jeweils im Vergleich der zehn Großstädte –

  • Hamburg die schönste und lebenswerteste Stadt,
  • Bremen die weltoffenste und atmosphärischste Stadt,
  • München die gastfreundlichste und freizeitattraktivste Stadt,
  • Berlin die kulturvielfältigste Stadt,
  • Köln die toleranteste Stadt und
  • Stuttgart die wirtschaftskräftigste, wohlhabendste und sicherste Stadt.

Außerordentlich hohe Sympathiewerte erhält Bremen von den Stadtbewohnern für die urbane Atmosphäre sowie für die Kinder-, Familien- und Umweltfreundlichkeit mit Spitzenwerten, die sonst keine andere Großstadt erreicht. Die Dortmunder bescheinigen ihrer Stadt ein überdurchschnittlich gutes Verkehrs- und Straßennetz. Die Hauptstadt Berlin mag in Sachen Kultur und Politik meinungsführend sein. In einer Beziehung stellen die Berliner ihrer Stadt ein vernichtendes Zeugnis aus: Berlin „gilt“ im Vergleich zu den anderen Großstädten als die schmutzigste Stadt. Auffallend ist auch dies: Die meisten Großstädte haben bisher noch nicht hinreichend auf die demografische Entwicklung reagiert: „Seniorenfreundlichkeit“ bescheinigt nur eine Mehrheit der Hamburger (61%), Bremer (59%) und Münchener (54%) ihrer Stadt. In Berlin (48%), Stuttgart (47%), Essen (46%), Düsseldorf (44%), Dortmund (44%), Köln (39%) oder Frankfurt/M. (35%) hat die Kommunalpolitik bisher noch zu wenig auf die Folgen der älter werdenden Bevölkerung reagiert.
„Wenn Städte eine Zukunft haben wollen, können sie sich nicht nur als Wirtschaftsstandort profilieren“, so Professor Opaschowski. „Genauso wichtig ist es, durch Binnenmarketing ein positives Selbstbild der Bevölkerung zu erzeugen: Gastfreundlich. Weltoffen. Tolerant.“ Was im Hinblick auf die Fußball WM 2006 erst durch aufwendige Werbekampagnen auf nationaler Ebene erreicht werden soll, ist in Städten wie München, Bremen und Köln bereits heute Wirklichkeit.

Wahlfamilien: Familienlose werden „adoptiert“.
Ausblick auf die Stadtgesellschaft von morgen

Die Anonymität, die fehlende soziale Kontrolle und das unruhige Leben in der Stadt galten bisher als Merkmale eines urbanen Lebensstils. In Zukunft wird vieles anders sein: Das Leben auf dem Lande wird dem Stadtleben immer ähnlicher. Beides ist dann möglich: Die Verstädterung der Dörfer und die Verdörferung der Städte. Oder in der Sprache der Planer: Die Verdichtung und die Entdichtung. Motorisierung und Mobilität lassen die Grenzen zwischen Stadt und Land immer fließender werden. Der „Stadt“-Begriff ist schon heute nicht mehr abgrenzbar. Im internationalen Maßstab schwanken die Mindesteinwohnerzahlen einer Stadt zwischen 200 Einwohnern in Dänemark und 30.000 Einwohnern in Japan. In Deutschland leben mittlerweile über achtzig Prozent der Bevölkerung in Städten.
Weniger. Älter. Bunter. So sieht das Leben in der Stadt der Zukunft aus. Das Stadtbild wird durch weniger Kinder und Jugendliche, mehr ältere Grauköpfe und ein buntes Gemisch von Einheimischen und Zuwanderern aus fremden Kulturen geprägt sein.
Die Zeit der Stadtflucht geht zu Ende. Immer weniger Menschen leben auf dem Land. Sinkende Lebensqualität auf dem Lande und extrem hohe Energiepreise beschleunigen den Trend „Zurück in die Stadt“. Innerstädtische Wohnlagen gewährleisten eher ein „Rundum-versorgt-Sein“-Gefühl. Für die nähere Zukunft gilt: Deutschland bleibt in Bewegung. Architekten, Planer und Investoren sollten sich rechtzeitig auf diese Ent-wicklung einstellen und den Blick mehr auf stadtzentrale Wohnstandorte richten. Insbesondere Menschen in der nachelterlichen Lebensphase („45plus“) kehren den Schlafstädten und Reihenhauskolonien auf der grünen Wiese den Rücken und suchen zur eigenen Sicherheit die Garantie der Vielfalt von Arbeit, Freizeit, Kultur und sozialen Diensten in Wohnortnähe.
Die Stadt der Zukunft bietet kurze Wege, mehr Wahlmöglichkeiten und höhere Lebens- und Erlebnisqualitäten. Die neuen Urbanisten von morgen wollen wieder ‚mittendrin’ und ‚mitten im Leben’ wohnen und offen für neue Lebensformen und Wohngemeinschaften sein. Gemeinsam machen sie sich selbst zu Architekten, Planern und Gestaltern ihrer Häuser und Wohnungen. Durch Selbst- und Nachbarschaftshilfe sorgen sie für stabile soziale Beziehungen im Wohnquartier („civic life“).
Vielleicht lebt – wie in früheren Jahrhunderten – der Gedanke des „ganzen Hauses“ wieder auf, weil die Menschen aufeinander angewiesen bleiben und sich mehr selber helfen müssen. Im „ganzen Haus“ haben in Zukunft nicht nur natürliche Familienmitglieder Platz. Auch Enkel-, Kinder- und Familienlose werden „wie durch Adoption“ in die Haus- und Wohngemeinschaft aufgenommen und bilden neue Wahlfamilien. So könnten alle ein selbstbestimmtes Leben führen – aber nicht allein. Gemeinsam statt einsam heißt das Wohn- und Lebenskonzept in der Stadt der Zukunft: Mehr Generationenhaus und Baugemeinschaft als Heimplatz und betreutes Wohnen.

Das Buch

HORST W. OPASCHOWSKI
Besser leben, schöner wohnen?
Leben in der Stadt der Zukunft

265 Seiten/51 Grafiken/Sachregister
ist ab sofort im Buchhandel erhältlich:
ISBN 3-89678-544-3 Primus Verlag Darmstadt 2005
19,90 Euro

Ihre Ansprechpartnerin

Ayaan Güls
Pressesprecherin

Tel. 040/4151-2264
Fax 040/4151-2091
guels@stiftungfuerzukunftsfragen.de

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